25.05.2021

© Schwäbisches Tagblatt GmbH - Bericht Hand in Pfote

Presse

Sein Körper ist so starr wie sein Blick. Ziellos schaut Michael Schmitt in den Raum. Als aber Hündin Aimy auf seinem Bett Platz nimmt, lächelt der Patient und lässt sie nicht mehr aus den Augen. Zwei Hündinnen unterstützen die Therapie auf der Wachkomastation in der Rehaklinik Bad Sebastiansweiler.

Bad Sebastiansweiler.Er mag keine Nähe. Er möchte nicht berührt und nicht gestreichelt werden. Jedenfalls nicht von Menschen. Anders ist das bei Aimy und Lilly. Michael Schmitt (Namen der Patienten geändert) entspannt sich, wenn die beiden ausgebildeten Therapiebegleithündinnen in seinem Bett sitzen, in seinen Händen Leckerli suchen, schlecken und knabbern. Dann lacht er. Seine angespannten Gesichtszüge lösen sich – genauso wie seine verkrampften Fäuste.

Michael Schmitt ist Mitte vierzig. Seit Jahren wird er auf der Wachkomastation therapiert. Er leidet am „Locked-in-Syndrom“. Im Unterschied zu Wachkoma-Patienten ist er bei Bewusstsein, jedoch in seinem Körper eingeschlossen, gefangen, unfähig sich zu bewegen und zu sprechen. Schmitt antwortet mit den Augen. Wenn er zur Decke blickt, heißt das: Er stimmt zu. Er freut sich, wenn Aimy und Lilly, die Hündinnen mit dem höfischen Namen Cavalier King Charles Spaniel an seinen Händen lecken. Bei anderen Patienten unterbindet das Tine Hetzl, die „Fachkraft für tiergestützte Intervention“. „Ich achte darauf, dass die Hunde nicht schlecken“, sagt sie. Aber Michael Schmitt mag es nun einmal.

Uwe Eggert, Therapieleiter in der Rehaklinik Bad Sebastiansweiler, hatte Tine Hetzl bei einer Weihnachtsfeier des Tübinger Hundesportvereins kennengelernt. Hetzl stellte ihre Arbeit vor und Eggert dachte: „Das ist mal etwas Anderes.“ Was die Reha betrifft, sagt Eggert, seien die Bewohner der Wachkomastation eigentlich austherapiert. Trotzdem erhalten sie regelmäßig Logopädie, Ergo- und Physiotherapie. „Wir suchen immer nach neuen Reizen, überlegen, wie können wir Reaktionen entlocken“, erklärt Stationsleiterin Carmen Leipp. Obwohl die meisten Patienten wahrnehmungsarm seien, hätten sie auf die beiden Hunde „intensiv reagiert“. Und Ergotherapeutin Carmen Demel fügt an: „Man merkt, dass sie lockerer werden.“

Meist haben die Patienten eine sehr hohe Muskelspannung und eine flache Atmung. Wenn sie jedoch mit Lilly und Aimy kuscheln, das weiche Fell, Körperwärme und Atmung der Hündinnen spüren, entspannen sie sich. Noch dazu gelingt es manchen – so wie Michael Schmitt – den Blickkontakt zu halten und emotional zu reagieren. Blutdrucksenkend und krampflösend wirke der Besuch der beiden Hündinnen, erklärt Tine Hetzl, die sich am Freiburger Institut für tiergestützte Therapie und in München zur Fachberaterin für tiergestützte Intervention ausbilden ließ. Nun betreibt sie in Reutlingen ein Ausbildungszentrum für Therapiehunde.

Die Cavaliers sind menschenlieb, offen, nervenstark, tolerant. „Sie schnappen nicht, wenn sie zu stark gedrückt oder abgeklopft werden“, erklärt Hetzl. Und Aimy und Lilly sind unvoreingenommen, bringen den Patienten stets die gleiche Empathie entgegen. „Sie bauen eine einfachere Brücke.“

In Deutschland seien ausgebildete Therapiebegleithunde auf Wachkomastationen noch selten unterwegs, sagt Hetzl. Nicht jedoch in den USA. Dort gebe es zudem medizinische Studien, die die Wirksamkeit wissenschaftlich belegen.

Klar, dass es zunächst Bedenken gegeben habe, sagt Uwe Eggert. Hunde auf der Station? Und was ist mit der Hygiene? Bevor Aimy und Lilly auf dem Bett herumkrabbeln, wird eine Decke ausgebreitet, und hinterher werden die Hände der Patienten gereinigt. Zudem sind die Hündinnen geimpft, entwurmt und haben ein Gesundheitsattest vorzuweisen. Auf den Betten von Patienten mit geschwächtem Immunsystem oder Allergien dürfen sie jedoch nicht Platz nehmen. Genauso wenig, wenn sich ein Patient bei ihrem Besuch anspannt.

Sabine Beck mag Aimy und Lilly. Nach einem Schlaganfall mit schweren Hirnverletzungen liegt die 50-Jährige auch auf der Wachkomastation. Seit neun Monaten wird sie immer montags von Aimy und Lilly besucht. Sabine Becks rechte Faust umklammert krampfhaft einen kleinen Elefanten, mit der linken Hand drückt sie einen Frosch. „Darf Aimy oder Lilly zu dir kommen?“, fragt Hetzl. „Beide, bitte!“, antwortet Beck und dreht leicht ihren Kopf. Tine Hetzl nimmt die Faust der Patientin, löst daraus den Elefanten und streicht vorsichtig über Lillys Ohren, über die Pfote, über den Kopf. „Schöne Lilly“, sagt Sabine Beck und lächelt. Sie wünschte, die Hündinnen könnten länger bleiben als nur einige Minuten. „Du weißt, ich muss noch zu anderen Patienten“, erklärt Hetzl. Sabine Beck versteht: „Schade!“, sagt sie. „Aimy und Lilly, tschüs!“

  

Susanne Wiedmann


Einsatz auf vier Pfoten in der Wachkomastation

Im Jahr 2004 wurde die Wachkomastation in der Rehaklinik eröffnet. Der Verein Ceres zur Hilfe für Cerebralgeschädigte war daran beteiligt. Derzeit sind 14 der 16 Betten belegt. Die Begleittherapie mit Hunden wird nicht von den Krankenkassen bezahlt. Zudem besucht Tine Hetzl nur in Begleitung einer Therapeutin und in Absprache vier bis acht Patienten in zwei Stunden.

Aimy sucht das Leckerli in der Hand des Patienten. Lilly schaut lieber zum Fenster hinaus: Tine Hetzl mit ihren Hunden auf der Wachkomastation.  Bild: Rippmann